Die Geschichte der Flucht

Wenn man sich die Pressemeldungen vom Sommer 2016 anschaut, müsste man denken, dass große Flüchtlingsströme ein reines Problem der Merkel-Regierung sei.
Ist das so? Natürlich nicht.

  •  ((c) by Tim Lüddemann https://www.flickr.com/photos/timlueddemann/sets/72157664642924986)
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Ohne jetzt bis in die Steinzeit zurückgreifen zu wollen oder die Flucht der Wasserlebewesen auf das Land zu thematisieren, ein wenig wollen wir ausholen. Gerade aus deutscher und auch aus europäischer Sicht.

Welche Migrationsbewegungen haben Deutschland geprägt?

Auswanderung nach Amerika (18. Jahrhundert bis 1914)

Die große Auswanderungswelle aus dem deutschsprachigen Raum über den Atlantik begann schon um 1700. Dabei gingen die Auswanderer vor allem in die heutigen Vereinigten Staaten, gefolgt von Kanada, Brasilien und Argentinien. Die Hochzeit der "transatlantischen Massen-auswanderung" (Klaus J. Bade) war das 19. Jahrhundert: Von 1816 bis 1914 wanderten 5,5 Millionen Deutsche in die USA aus. Zum Ende des Jahrhunderts stellten die deutschen Ein-wanderer sogar die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in den USA. Der Hauptgrund für die Auswanderung war das schnelle Bevölkerungswachstum, das für Armut und Arbeitslo-sigkeit sorgte.

Geprägt war die Auswanderungswelle primär somit - wie die AfD heute sagen würde - von wirtschaftlichen Gründen.  Oder eben Armut und Arbeitslosigkeit. Oder wie die Zeit schreibt:

Dafür gibt es mehrere Gründe: Die stetig wachsende Bevölkerung, häufige Missernten und die sich daraus ergebenden Hungersnöte bedrohen die Existenz so sehr, dass eine Auswande-rung oft die einzig mögliche Option ist. Zwischen 1820 und 1850 steigen die Preise für Rog-gen, Kartoffeln und Kleidung um das Doppelte, bei nur geringfügiger Erhöhung der Löhne. Strenge Zunftregeln beschränken das Fortkommen junger Handwerker.

Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits Zeitungen die über das „Neue Land“ berichteten, die Reise nach Amerika stellte mit Beginn des 19. Jahrhunderts einen erstmals möglichen wenn auch gefährlichen Weg dar:

Die Reise dauert vier bis sechs Monate. Zu Fuß, auf Pferdefuhrwerken oder etappenweise auf Schiffen und Lastkähnen begeben sich die Menschen allein, in der Gruppe, manchmal in einer Art Karawane auf den Weg zum Hafen. Die deutschen Seehäfen werden für die europäischen Auswanderer im Laufe des 19. Jahrhunderts dabei immer wichtiger. Eine regelmäßige Verbindung zwischen Bremen und New York wird 1822 eingerichtet, ein regelmäßiges Paketschiff folgt 1826. Bald fahren das ganze Jahr über Schiffe nach Baltimore, New York, New Orleans, Philadelphia und Charleston. Hamburg zieht wenige Jahre später nach. Und auch das kleine Bremerhaven entwickelt sich zu einem beliebten Auswandererhafen.


Quellen:
Bade, Klaus J. et al (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage. 2010. S.146 f.

Arbeitskräfte für Industrie und Kriegswirtschaft (1890er Jahre bis 1918)

Die Hochphase der Industrialisierung begann im Deutschen Reich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dadurch wurden verstärkt Arbeitskräfte gebraucht: Innerhalb weniger Jahre wurde das Deutsche Reich so vom Auswanderungsland zum weltweit zweitwichtigsten Ein-wanderungsland, gleich nach den USA. Die sogenannten "Ruhrpolen" wanderten aus dem damals preußischen Teil Polens in das westdeutsche Industriegebiet ein. Sie waren polnisch-sprachige preußische Staatsbürger, es handelte sich also um eine Binnenmigration. Aber auch Ostpreußen wurde zum Zielpunkt von Wanderarbeitern aus dem russischen Teil Polens sowie aus Italien und Österreich-Ungarn. Vor allem die ausländischen Polen stießen hier auf eine nationalistisch geprägte "Abwehrpolitik". 1914 gab es 1,2 Millionen ausländische Wan-derarbeiter im Deutschen Reich. Im Ersten Weltkrieg wurden weiter ausländische Arbeiter angeworben. Hinzu kamen 1,5 Millionen Kriegsgefangene, die zur Arbeit in Deutschland gezwungen wurden.

Auch hier waren es wieder(weder?) Armut bzw. Arbeitslosigkeit, die für eine Migration sorgte, sondern soziale Unterschiede und die Sorge um das eigene Überleben.

Quellen:
Bade, Klaus J. et al (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage. 2010. S. 149-152.

Bootsankunft Geflüchtete auf Chios, Griechenland

Die kommunistische Revolution und der Bürgerkrieg im ehemaligen Russischen Zarenreich trieben etwa 1,5 Millionen Menschen in die Flucht, unter ihnen viele Adelige und Unterneh-mer. In den Jahren 1922/23 suchten 600.000 russische Flüchtlinge Schutz in der Weimarer Republik, mehr als die Hälfte davon in Berlin. Der Großteil wanderte weiter nach Paris oder New York. Grund war vor allem eine restriktive Integrationspolitik, die den Flüchtlingen aus Russland weder rechtliche noch wirtschaftliche Unterstützung bei der Integration bot. Noch schwieriger war die Situation für Juden, die vor gewalttätigen Ausschreitungen in Ost- und Südosteuropa geflohen waren. Dennoch ersuchten rund 70.000 von ihnen bis 1921 Asyl in der Weimarer Republik, bis die antisemitischen Pogrome auch hier immer offener und exzessiver wurden.

Politische Umwälzungen: Diesmal waren es mehr die Wohlhabenden, die zu Flüchtenden wurden.

Quellen:
Bade, Klaus J. et al (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage. 2010. S.154 ff.

Judenverfolgung und Holocaust im NS-Regime (1933 bis 1945)

Mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler endete faktisch der Rechtsstaat der Weimarer Republik. Die nationalsozialistische Regierung erließ in den folgenden Jahren viele antisemi-tische Gesetze. Übergriffe auf Juden und ihre Ausgrenzung aus der Gesellschaft wurden ge-duldet und bestärkt. Bis 1939 verließen 247.000 der etwa 500.000 Juden ihre deutsche Hei-mat. Doch immer mehr Staaten waren nicht länger bereit, jüdische Flüchtlinge einreisen zu lassen. Bei einer Konferenz 1938 im französischen Évian wollte der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt die Aufnahme global regeln. Die Vertreter der 32 anwesenden Staaten wollten Flüchtenden jedoch keinen Schutz gewähren – einzige Ausnahme: die Dominikani-sche Republik. Dennoch gelang es zwischen 1940 und 1945 nochmals 31.500 Juden zu flie-hen, den meisten davon nach Palästina und in die USA. Zwischen 1940 und 1945 wurden 130.000 Juden aus dem Deutschen Reich in Konzentrations- und Vernichtungslager depor-tiert. Nur 34.000 überlebten das NS-Regime in Deutschland.

Politische Gründe, vor allem die Verfolgung durch das NS-Regime, sorgten für diese Fluchtwelle. Der Versuch Roosevelts, die Aufnahme der Flüchtlinge weltweit zu regeln, scheiterte so wie der Versuch 2016 scheiterte, Flüchtlinge europaweit zu verteilen.

 

Quelle:

Bade, Klaus J. et al (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage. 2010. S.155 und Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier: Vertreibung und Vernichtung der Juden aus dem Deutschen Reich.

Entwicklung Asylanträge seit 1953

Entwicklung Asylanträge seit 1953 ()

Entwicklung Asylanträge seit 1953

Ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene (Endes des 2. Weltkrieges)

Das NS-Regime konnte nur deshalb so lange Krieg führen, weil es auf ausländische Arbeits-kräfte zurückgriff: 1944 arbeiteten rund acht Millionen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene im Dritten Reich. Nach Kriegsende nahmen die Alliierten zehn bis zwölf Millionen "Displaced Persons" (DP) in Obhut, hauptsächlich Überlebende der Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager. In den ersten Monaten wurden fünf Millionen in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Problematisch war die Rücksendung von Bürgern der Sowjetunion, da diese als vermeintliche Kollaborateure mit Verfolgung zu rechnen hatten. 1950 lebten noch etwa 150.000 DPs in Aufnahmelagern in Deutschland. Sie waren jedoch gesetzlich nicht mit deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen gleichgestellt und erhielten meist keine Entschädigung.

 

Quellen:
Bade, Klaus J. et al (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage. 2010. S. 155-157

Vertriebene, Spätaussiedler (seit 1945)

Die Geschichte der Aussiedler beginnt im 18. Jahrhundert: Rund 740.000 Deutsche zogen zwischen 1680 und 1800 in den Donauraum, nach Siebenbürgen, nach Russland und bis ans Schwarze Meer. Auch während des Ersten und Zweiten Weltkriegs wurden eroberte oder be-setzte Gebiete mit Deutschen besiedelt. Die ansässige Bevölkerung wurde deportiert oder vertrieben. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs flohen 14 Millionen Deutschstämmige in Rich-tung Westen. Hunderttausende überlebten Flucht, Vertreibung und Deportation nicht. 1950 zählte man 12,5 Millionen Vertriebene in der Bundesrepublik und der DDR. Ab 1953 regelte das Bundesvertriebenengesetz ihre Aufname als Aussiedler, denen die deutsche Staatsangehörigkeit zustand. Mit der beginnenden Politik der Öffnung und dem anschließenden Zusammenbruch der Sowjetunion stieg die Zahl der Aussiedler. Insgesamt kamen seit 1950 rund 4,5 Millionen (Spät-)Aussiedler nach Deutschland, von denen 3,1 Millionen weiterhin hier leben

Hier wird von 14 Millionen Flüchtlingen gesprochen. Für den Sommer 2016 geht man inzwi-schen von 800.000 bis knapp 1.000.000 Millionen Flüchtlingen mit Ziel Deutschland aus.

Quellen:
Bade, Klaus J. et al (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage. 2010. S.147, 153, 158. Zudem: Statistisches Bundesamt, Ergebnisse des Mikrozensus 2014, Fachserie 1 Reihe 2.2, S.7

"Gastarbeiter" in der Bundesrepublik und der DDR (1955 bis 1989)

Mit dem massiven Ausbau des Außenhandels brauchte die Bundesrepublik mehr Arbeitskräfte, als zur Verfügung standen. Der Bau der Mauer stoppte die Migration aus der DDR. Ab 1955 schloss die BRD mit Italien, Spanien, der Türkei und anderen Ländern Anwerbeabkommen ab. Von den 14 Millionen sogenannten Gastarbeitern kehrten 11 Millionen nach dem Anwerbestopp 1973 in ihre Heimat zurück. Besonders Türken, Italiener und Jugoslawen blieben jedoch und holten Familienangehörige nach. Auch die DDR warb seit Mitte der 1960er Jahre ausländische Arbeiter an. 1989 lebten 93.600 Vertragsarbeiter in der DDR. Sie kamen hauptsächlich aus Vietnam (59.000) und Mosambik (15.000).

Man beachte hierbei die Zahl von 14 Millionen Gastarbeitern binnen 34 Jahren. Die meisten „Gastarbeiter“ kamen zwischen 1962 und 1973 nach Deutschland. 1962 kamen 630.000. Diese Zahl steigerte sich nahezu linear bis zum Höhepunkt in 1973 mit 2.600.00 Gastarbeitern.

1964 wurde der millionste Gastarbeiter – Armando Rodrigues aus Portugal – feierlich vom damaligen Bundesinnenminister begrüßt.

Quellen:
Bade, Klaus J. et al (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage. 2010. S.159 ff. und "Dableiben oder ausreisen?", Publikation des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, S. 20, Forschungsprojekt der Humboldt-Universität zu Berlin, "Migration in die DDR (und BRD)"

Asylsuchende im wiedervereinigten Deutschland (1990er Jahre)

Seit Ende der 1980er Jahre waren die Asylbewerberzahlen in der Bundesrepublik gestiegen. Nach dem Mauerfall erreichten sie einen Höchststand: 1992 beantragten 438.191 Menschen Asyl, fast drei Viertel von ihnen stammten aus Ost- und Südosteuropa. Dazu gehörten vor allem Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien sowie Roma aus Rumänien und Bulgarien. Es folgte eine stark polarisierte Asyldebatte. Sie wurde begleitet von gewaltsamen Übergriffen, wie den Brandanschlägen in Rostock Lichtenhagen (1992), Mölln (1992) und Solingen (1993) auf Asylbewerberunterkünfte und Wohnhäuser von Einwanderern. Im Jahr 1993 wurde der sogenannte Asylkompromiss vom Parlament verabschiedet. Die Zahl der Asylbewerber ging stark zurück und sank bis 2008 auf einen Tiefstand von 28.000. Von den Flüchtlingen aus Jugoslawien blieben nur wenige dauerhaft in Deutschland: Grund dafür waren eine aktive Rückführungs- und strenge Abschiebungspolitik und die Möglichkeit, in andere Aufnahmeländer weiterzuwandern. So sank die Zahl der Bosnier in Deutschland von 350.000 (1996) auf rund 20.000 (2001) Personen.

Quellen:
Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung "Flucht und Asyl seit 1990" und BAMF, Das Bundesamt in Zahlen 2014, S. 11

Aktuelle Flüchtlingszahlen (2006 bis 2017)

Seit 2006 steigt die Zahl der Zuwanderer nach Deutschland wieder, die meisten von ihnen kommen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Freizügigkeit ermöglicht es ihnen, ohne Visum nach Deutschland einzureisen und hier zu arbeiten. Dem aktuellen Migrationsbericht zufolge kamen 2013 rund 1,2 Millionen Menschen nach Deutschland, 708.000 von ihnen stammten aus EU-Staaten. Polen, Italien und Rumänien waren dabei die Hauptherkunftsländer. Die Wanderungsbilanz, also die Zahl der Zu- abzüglich der Fortzüge, lag allerdings nur bei 429.000 Zuzügen, denn auch die Abwanderung aus der Bundesrepublik steigt. Unter den Einwanderern aus Drittstaaten befanden sich vor allem Menschen, die für Ausbildung und Arbeit (24 Prozent), im Rahmen des Familiennachzugs (15 Prozent) oder aus humanitären Gründen (29 Prozent) nach Deutschland kamen. Nachdem die Zahl der Asylbewerber 2014 bei 220.000 lag, rechnet das Innenministerium für 2015 mit rund 800.000 Asylsuchenden. Es kursierten auch weitaus höhere Prognosen von einer Million bis zu 1,5 Millionen.

Anmerkung:
Diese Zahlen wurden jedoch nie offiziell bestätigt. Von offizieller Seite blieb es bei 800.000 bis 900.000 Flüchtlingen.

Quellen:
Migrationsbericht 2013, BAMF und BAMF, Das Bundesamt in Zahlen 2014, S. 11

Entwicklung Asylanträge 2015-2017

Entwicklung Asylanträge 2015-2017 ()

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